Kaliningrad den Königsbergern?

Kaliningrad den Königsbergern?

Die Ereignisse rund um die Ukraine rücken auch das Gebiet Kaliningrad immer stärker in das Zentrum internationaler Aufmerksamkeit. Die seit den 90er Jahren wieder aufgelebten Forderungen zur Rückgabe des Gebietes an Deutschland, erfahren mit einigen Modifikationen zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Wiederbelebung. Forderungen werden nicht nur in deutscher Sprache erhoben, sondern über eine Veränderung des Status Quo denkt man auch in ukrainischer und litauischer Sprache nach.

Aber bei all den Äußerungen über eine Herauslösung des Kaliningrader Gebietes aus dem Bestand der Russischen Föderation, über Blockaden des Gebietes, vergisst man darüber nachzudenken, wie die Veränderung des geopolitischen Status rein praktisch vor sich gehen soll.

Unsere Informationsagentur hat versucht, dieses Problem zu analysieren und wir sind zu katastrophalen Erkenntnissen gekommen.

 

1.Einleitung

Kaliningrad ist eine russische Exklave mit deutscher Vergangenheit. Entstanden ist diese geopolitische Situation im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, im Rahmen von Vereinbarungen der Siegermächte. Mit dem Zerfall der Sowjetunion geriet Kaliningrad, das ehemalige deutsche Königsberg, in eine besondere geopolitische Lage. Das Gebiet ist russisches Territorium ohne gemeinsame Grenze mit dem russischen Mutterland. Es ist umgeben von Litauen, einer ehemaligen Republik der Sowjetunion und heutigem Mitglied der Europäischen Union und der NATO und Polen, einem ehemaligen Verbündeten der Sowjetunion im Rahmen des Warschauer Vertrages, des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe und heutigem Mitglied der Europäischen Union und der NATO.

Im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges fiel des „Gebiet Ostpreußen“ nicht an die Sowjetunion, wie global in Diskussionen immer wieder verallgemeinert informiert wird. Das Gebiet Ostpreußen wurde aufgeteilt zwischen Polen und der Sowjetunion und mit dem Zerfall der Sowjetunion ist ein weiterer Teil Ostpreußens bei Litauen verblieben.

Wenn wir also von Ostpreußen als ehemaligem territorialen Teil Deutschlands sprechen, so muss von einem dreigeteilten Gesamtgebiet gesprochen werden.

Es geht im vorliegenden Material nicht darum, auf der Grundlage offizieller internationaler Dokumente zu „beweisen“ das der geopolitische Status-Quo rechtlich verbindlich und somit unantastbar ist. Es geht mit vorliegendem Material darum aufzuzeigen, welche möglichen Konsequenzen eine Veränderung des geopolitischen Status des Gebietes Kaliningrad für Europa  und alle daran beteiligten Seiten hätte.

 

Grafik: Kaliningrad-Domizil

 

2. Problemgruppen für die Neufestlegung des Gebietsstatus

Um generell das Thema einer Veränderung des geopolitischen Status des Gebietes Kaliningrad zu beginnen, ist die Frage der Notwendigkeit zu stellen. Eine Notwendigkeit zur Veränderung ergibt sich nicht aus dem Wunsch „Dritter“ nach Revidierung von internationalen Entscheidungen im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, sondern dann, wenn entweder

  • die Russische Föderation als internationales Subjekt daran interessiert ist, oder
  • zumindest die Kaliningrader Bevölkerung sich begründet äußert über die Notwendigkeit einer Herauslösung aus dem Bestand der Russischen Föderation.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keinerlei Anzeichen, dass die Bevölkerung des Kaliningrader Gebietes an irgendwelche Änderungen denkt. Demzufolge sind nachfolgende Überlegungen zu den zu berücksichtigenden Faktoren bei der Veränderung des Status-Quo um Kaliningrad rein theoretischer Natur und zeigen in der Endkonsequenz, dass es für niemanden vorteilhaft ist, in Kaliningrad geopolitische Veränderungen herbeizuführen.

Sollten jedoch Änderungen geplant werden, egal von welcher Seite, so sehen wir folgende zu berücksichtigende Schwerpunkte:

2.1. Die Staatlichkeit des Gebietes

  • Kaliningrad wird selbständiger Kleinstaat,
  • Kaliningrad wird Verwaltungszone der Europäischen Union,
  • das Gebiet wird Deutschland zugeordnet,
  • das Gebiet wird Polen übergeben,
  • das Gebiet wird Litauen übergeben,

2.2. Bevölkerungspolitik

  • Verbleib der russischsprachigen Bevölkerung im Gebiet, unter Berücksichtigung von
  • Armeeangehörigen,
  • Angehörigen der Polizei- und Sicherheitsdienste,
  • Verwaltungsbeamten aller Ebenen,
  • Aussiedelung der russischsprachigen Bevölkerung aus dem Gebiet
  • Wohin wird die Bevölkerung ausgesiedelt
  • Wer organisiert/finanziert die neue Existenzgrundlage der Bevölkerung an einem neuen Ort
  • Welche neue Bevölkerung wird das Gebiet besiedeln
  • Staatsangehörigkeit für die im Gebiet lebende Bevölkerung
  • für die russischsprachige Bevölkerung
  • für Übersiedler in das Gebiet

2.3. Die Gesetzlichkeit des Gebietes

  • Welche Gesetzgebung wird im Gebiet gelten,
  • Wer erarbeitet diese Gesetzgebung,
  • In welcher Sprache wird die Gesetzgebung erarbeitet,
  • Welche Amtssprache(n) werden für das Gebiet festgelegt.

2.4. Die Verwaltungsorganisation des Gebietes

  • Welche Struktur erhält das Gebiet,
  • Woher kommen die Beamten, Angehörige der Sicherheitsorgane,
  • Welche Währung erhält das Gebiet,
  • Orts- und Straßenbezeichnungen für das Gebiet,
  • Welche Lehrer werden an den Bildungseinrichtungen arbeiten,
  • Welche Bildungs- und Ausbildungsprogramme werden gültig sein,
  • Wie wird die medizinische Versorgung gewährleistet.

2.5. Internationaler Status des Gebietes

  • Neutralität,
  • Bündniszugehörigkeit,
  • Militärstationierung,
  • Visafrei (für gegenseitige Verwandtenbesuche).

2.6. Eigentumsfrage

  • Föderales Eigentum,
  • Gebietseigentum,
  • Kommunaleigentum,
  • Kircheneigentum,
  • Privateigentum,

2.7. Wirtschaftliche Grundlagen des Gebietes

  • Industrieproduktion
  • Landwirtschaftliche Produktion
  • Tourismus
  • Finanz-, Handels-, Ausstellungs- und Kongresszentrum

Die Vielzahl der zu lösenden Probleme löst sofort die Frage von „Aufwand und Nutzen“ aus. Der Aufwand ist riesig und welchen Nutzen bringt es für wen, wenn der geopolitische Status des Kaliningrader Gebietes geändert wird? Die nachfolgende Kommentierung der einzelnen Problemgruppen zeigt nach unserer Überzeugung, dass es für Niemanden irgendwelche realen Vorteile bringt, am Status des Kaliningrader Gebietes etwas zu ändern.

 

3. Kommentare zu den Problemgruppen

3.1. Kommentar zur Staatlichkeit des Gebietes

Sollte Kaliningrad ein neuer, selbständiger Kleinstaat mit einer Bevölkerungszahl von weniger als einer Million Menschen werden, so wird es zu ähnlichen Entwicklungsproblemen kommen, wie sie Litauen, Lettland und Estland nach Erlangung der Selbständigkeit ab dem Jahre 1991 durchlebt haben. Die Baltischen Staaten haben sehr zeitig beschlossen, sich nach dem Westen auszurichten und haben eine gewisse, nicht gerade überschwengliche Hilfe erhalten. Ähnliches wird sich somit auch in Kaliningrad abspielen und der neue Kleinstaat wird in Europa nur ein wirtschaftliches und menschliches Problemfeld mehr werden, welches die europäische Union wirtschaftlich belastet.

Wird das Gebiet Verwaltungszone der Europäischen Union – also eine internationale Subjektform, die in Europa so bisher nicht bekannt ist – muss sich die gesamte europäische Union um dieses Gebiet kümmern. Und jeder europäische Staat wird versuchen, seine eigenen Interessen im Kaliningrader Gebiet durchzusetzen. Allerdings steht die Frage, welche europäischen Staaten überhaupt Interesse an dem Kaliningrader Gebiet haben. Wir gehen davon aus, dass nur Deutschland, Polen und Litauen ein Interesse haben. Und sollten diese drei Staaten treuhänderisch im Auftrage der Europäischen Union arbeiten, haben nationale Interessen zurückzutreten. Etwas sehr schwierig vorzustellen, bei der dominierenden Rolle Deutschlands.

Wird das Gebiet Deutschland übergeben, so entsteht eine ähnliche Situation wie nach dem Ersten Weltkrieg – eine deutsche Exklave, verbunden mit dem Mutterland über eine durch Polen führende Verbindung. Ob sich Polen, in Erinnerung an Danzig und den 1. September 1939 in dieser Situation wohlfühlt, darf bezweifelt werden. Dazu kommt das Problem, dass der wesentlich größere Teil des ehemaligen Ostpreußens nun polnisches Gebiet ist und die Polen wohl ständig in der Befürchtung leben, dass Kräfte in Deutschland eine Wiederherstellung des Gebietes Ostpreußen in seinen alten Grenzen fordern könnten. Der Präzedenzfall für eine Revidierung der internationalen Beschlüsse des Jahres 1945 gibt es ja mit der Rückübergabe des Kaliningrader Gebietes durch Russland. Ähnliche, wenn auch weniger große Probleme wird es mit Litauen geben, obwohl es sich hier nur um ein kleines Gebietsteil handelt. Allerdings geht es hier um die Kurische Nehrung, einer guten Tourismus-Einnahmequelle und um Kleipeda, dem deutschen Memel mit seinem Hafen.

Bei einer Verantwortung Polens oder Litauens für das Kaliningrader Gebiet steht die Frage, wie diese Staaten eine erfolgreiche Entwicklung des Gebietes gewährleisten wollen, da sie selber mit der Problemlösung auf ihrem jetzigen Territorium mehr als ausgelastet sind. Es wird also kaum zu spürbaren Verbesserungen kommen und somit würde im Kaliningrader Gebiet eine menschliche Zeitbombe ticken, da die Erwartungen der Bevölkerung die Grundlage für eine Herauslösung aus dem Bestand der Russischen Föderation waren, nicht erfüllt werden.

Alleine die Klärung der Staatsform des Gebiets und wer sich dafür verantwortlich fühlen soll, zeigt eine Unzahl von Schwierigkeiten auf, die nur schwer im gegenseitigen Einvernehmen, auf der Basis des Vertrauens, der Basis des „geschichtlichen Vergessens der Vergangenheit“ gelöst werden können. Kaliningrad als Kleinstaat gibt der Europäischen Union keinerlei Vorteile, weder als Produktionsstandort noch als Verbrauchermarkt. Der einzige Vorteil besteht darin, dass Russland sich wiederum ein Stück Richtung Osten zurückgezogen hat.

3.2. Kommentar zur Bevölkerungspolitik

Je nach Entscheidung über die Staatsform des Kaliningrader Gebietes, ist die Frage nach der Bevölkerung zu klären:

  • Verbleibt die russische Bevölkerung im Gebiet
  • Wird die russische Bevölkerung ausgesiedelt

Sollte eine Veränderung des Status durch Aktivitäten der Kaliningrader Bevölkerung herbeigeführt werden, so ist diese Frage gegenstandslos, da die Bevölkerung im Gebiet verbleibt.

Sollte die Veränderung des Status im Ergebnis internationaler Verhandlungen oder anderer „besonderer Ereignisse“ herbeigeführt werden, so muss geklärt werden, was mit der Bevölkerung als Ganzes und bestimmten Bevölkerungsgruppen im Detail zu geschehen hat.

Wird beschlossen, dass die Bevölkerung prinzipiell verbleibt, so steht trotzdem die Frage über die Zukunft der Bevölkerungsteile, die im Interesse des russischen Staates gearbeitet haben. Hierzu gehören die Armeeangehörigen, die Angehörigen anderer bewaffneter Organe wie Polizei und FSB, die Rechtspflegeorgane und die leitenden Verwaltungsbeamten aller Ebenen. Diese werden ihrer Existenzgrundlage beraubt und es muss geklärt werden, ob die Wirtschaftskraft des Gebietes so groß ist, um diesen relativ großen Bevölkerungsanteil lebenslang mit einer Pension sicherstellen zu können, dass es zu keinen sozialen Spannungen kommt. Sollte dies nicht möglich sein oder sich dieser Personenkreis entschließen das Gebiet zu verlassen, so steht die Frage wer die Kosten für eine Umsiedlung und eine neue Existenzgrundlage an einem anderen Ort im russischen Mutterland übernimmt.

Wird beschlossen die gesamte bisherige Bevölkerung auszusiedeln, so ist das Schicksal – sowohl organisatorisch, wie materiell, wie finanziell von 950.000 Menschen zu klären. Die Umsiedlung wird vermutlich in das russische Mutterland erfolgen und für all diese Menschen ein neues Gebiet mit einer funktionierenden Infrastruktur zu finden oder zu errichten dürfte eine Aufgabe sein, die kaum ohne soziale Spannungen zu bewältigen ist und die die Kraft aller Beteiligten auf viele Jahre binden wird. Die Frage, wer diesen Prozess organisiert und bezahlt wird sicherlich im Rahmen der Entscheidung gelöst, wem das Gebiet zukünftig übergeben wird. Wird also das Gebiet an Deutschland übergeben, so können die entstehenden Probleme mit relativ einfachen Mitteln analysiert werden – an Hand der Erfahrungen die bei der Wiedervereinigung 1990 ff. gesammelt wurden. Allerdings dürfte die Lösung der Kaliningrader Probleme die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands überfordern.

Gehen wir aber davon aus, dass der Freizug des Gebietes vereinbart werden kann, so steht die Frage, wer denn dieses Gebiet neu besiedeln will. Mit Sicherheit wird es einige ehemalige Bewohner Königsbergs geben (bzw. deren Nachfolger), die in das Gebiet zurückkehren werden. Aber die Masse der Bewohner des ehemaligen Ostpreußens waren einfache Menschen ohne Eigentumsbindung. Deshalb wird es, ähnlich wie nach der Wiedervereinigung Deutschlands, nur eine sehr geringe Bewegung „West-Ost“ geben, Richtung Ost-Preußen“ sogar noch weniger als in Richtung „Ost-Deutschland“. Ist also das Gebiet unterbesiedelt, kommt es zur weiteren Verelendung und nicht zur Entwicklung des Gebietes – gut zu beobachten in den östlichen Gebieten Deutschlands.

Egal, wie diese Frage gelöst wird, irgendeine Bevölkerung wird in diesem Gebiet verbleiben und es entsteht die Frage, welche Staatsangehörigkeit diese Bevölkerung hat. Und diese Frage ist zu klären für die russischen Bürger, die im Gebiet verbleiben und für die Bürger, die in das Gebiet übersiedeln. Es gibt keine Staatsangehörigkeit „Europa“, falls das Gebiet europäische Verwaltungszone wird. Sollte Deutschland das Gebiet übernehmen, so werden alle die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Daraus ergibt sich aber für die ehemaligen russischen Bürger ein neues Problem, denn diese haben Verwandte in Russland und können diese nun nicht mehr so einfach besuchen, ebenso wie es umgekehrt sein wird.

3.3. Kommentar zur Gesetzlichkeit des Gebietes

Eine weitere zu klärende Frage ist, welche Gesetzlichkeit sich das Gebiet gibt. Die Frage der Gesetzlichkeit beginnt bei einer(m) Verfassung/Grundgesetz und endet letztlich bei den Festlegungen zur Straßenverkehrsordnung und den Statuten für Kleingärtner.

Europa selbst verfügt nicht über eine einheitliche Gesetzgebung, die man einfach einem Staat übergeben kann. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Deutschlands hatten die Beitrittsgebiete die einmalig günstige Gelegenheit, eine komplette Gesetzgebung zu bekommen, mit einem ausreichenden Erfahrungsschatz in der täglichen Anwendung und in einer Sprache, die sofort von allen verstanden wurde.

Für das Gebiet stehen hier die Fragen in ganz scharfer Form. Es muss die Frage beantwortet werden, in welcher Sprache wird die Gesetzgebung erarbeitet. Verbleibt die Bevölkerung im Gebiet, so ist die russische Sprache die Hauptsprache, denn der Anteil der russischsprachigen Bevölkerung wird über viele Jahrzehnte der überwiegende Anteil sein. Damit dürfte aber die russischsprachige Gesetzgebung für andere „Übersiedler“ nicht verständlich sein. Es bedarf also mehrerer Amtssprachen – aber welcher? Russisch und Deutsch? Und zusätzlich noch eine Sprache? Sehr kompliziert wird dies, wenn man als Staatsform für das Gebiet die „Europäische Verwaltungszone“ wählt.

Es steht die Frage, wer konkret die neue Gesetzgebung erarbeitet und welche Prinzipien, nationaler, ethischer Art bei der Erarbeitung Anwendung finden. Erarbeitet die Europäische Union diese Gesetzgebung, wird wiederum jeder Staat (insbesondere natürlich die unmittelbaren Nachbarstaaten) versuchen, dominant ihre eigenen Vorstellungen zur Gesetzgebung einfließen zu lassen. Wird das Gebiet Deutschland zugeordnet, so werden natürlich die deutschen Vorstellungen umgesetzt.

Und es steht die Frage, wer letztendlich diese Gesetzgebung umsetzen wird. Welche neuen Beamte und staatlichen Angestellte werden eingesetzt im Gebiet und verstehen diese neue offizielle Amtssprache(n). Und selbst wenn für das Gebiet mehrere Amtssprachen festgelegt werden, so müssen alle staatlichen Stellen diese Anzahl an Amtssprachen beherrschen. Eine Forderung, die bei den vermuteten Möglichkeiten an Amtssprachen (Russisch, Deutsch oder Russisch, Polnisch oder Russisch, „Europäisch“) kaum lösbar ist. Man stelle sich nur die Arbeit eines Verkehrspolizisten vor, der nur eine Sprache spricht.

Die russischsprachige Bevölkerung zu verpflichten, in Sprachkursen eine neue Sprache zu erlernen ist praktisch nicht umsetzbar. Selbst bei einer vorausgesetzten 100-prozentigen Bereitschaft der Bevölkerung wird keine Beherrschung einer neuen Amtssprache in dem Umfang erreicht, dass man davon ausgehen kann, dass die Bevölkerung die Gesetze auch voll inhaltlich erfasst, versteht und umsetzen kann. Immerhin handelt es sich bei der Bevölkerung um Menschen der Altersgruppen vom Kind bis zum Greis. Man stelle sich vor, dass eine Verkäuferin nicht alle zugelassenen Sprachen beherrscht und somit nur eine Kundengruppe bedienen kann – eine nationale Zeitbombe.

Weiterhin steht die Frage, in welcher Sprache werden Massenmedien gedruckt, werden Radio- und TV-Programme ausgestrahlt, werden Kulturveranstaltungen durchgeführt. Hier sind historisch gewachsene Gefühle zu berücksichtigen und es muss die Bildung von nationalen kulturellen „Fraktionen“ vermieden werden, denn genau diese Situation führt letztendlich wieder zu Konflikten auf dem Gebiet und könnte zu einer weiteren inneren Teilung von „Ostpreußen“ führen.

3.4. Kommentar zur Verwaltungsorganisation des Gebietes

Ein sehr großer Problemkreis ist die Frage der inneren Struktur des Gebietes. Hierbei ist die Aufteilung in Kreise, Gebiete, Kommunen, Gemeinden sicherlich das kleinste Problem. Es muss die Frage beantwortet werden, welche Bezeichnungen für die Kreise, Städte, Gemeinden, Straßen und Plätze gewählt werden. Die jetzigen, national und kulturell geprägten Bezeichnungen werden „neutraleren“ Bezeichnungen weichen. Aber welchen? Russischen, Deutschen. Und können die neuen Bezeichnungen auch von den Bewohnern rein sprachlich ausgesprochen werden? Müssen die Beschilderungen der Orte und Straßen mehrsprachig sein?

Ein wesentlich schwierigeres Problem ist, woher die Verwaltungsbeamten kommen, die diesen Verwaltungsumbau organisieren und begleiten und woher die Verwaltungsbeamten kommen, die dann auch im Gebiet verbleiben und hier die staatliche Arbeit für die kommenden Jahrzehnte fortsetzen. Und hierbei geht es nicht nur um die staatlichen Angestellten in irgendwelchen Amtsstuben und Bürgercentren. Es geht auch um Polizei und Sicherheitsorgane.

Es muss die Frage geklärt werden, woher die Lehrer in den Bildungseinrichtungen kommen. Wir sprechen hier von den Grundschulen bis hin zu den vorhandenen Hochschulen und Universitäten. Die vorhandenen Lehrer – werden sie übernommen? Wie werden sie umgeschult? In welcher Sprache werden sie geschult? In welcher Sprache werden die Ausbildungsmaterialien gehalten? Wenn es um spezifische Fächer, politischer oder geschichtlicher Art geht, welche Wahrheit wird vermittelt? Kommen neue Lehrer, die bereits ausgebildet sind – in welcher Sprache können sie den Kindern oder Studenten den Lehrstoff vermitteln?

Es ist die Frage zu klären, was mit den bisherigen schulischen, beruflichen und Hochschul-/Universitätsabschlüssen der bisherigen Bewohner passiert? Werden diese voll inhaltlich als gleichberechtigte Abschlüsse anerkannt? Müssen „Nachstudien“, Umschulungen oder ähnliches erfolgen? Eine Aberkennung oder auch nur teilweise Nichtanerkennung erreichter Abschlüsse würde als Diskriminierung eingestuft und hätte sofort soziale Folgen.

Ein weiteres Problemfeld ist die medizinische Versorgung. Vorhandenes medizinisches Personal kann weiterqualifiziert werden – hier gibt es wohl kaum größere Probleme. Die Umrüstung der vorhandenen medizinischen Einrichtungen auf westeuropäisches Niveau ist eine Frage der vorhandenen Finanzmittel. Für „Neusiedler“ steht aber die Frage, ob sie qualifiziertes medizinisches Personal finden, mit denen sie in ihrer eigenen Sprache sprechen können. Es wird kaum möglich sein, dass das vorhandene medizinische Personal auch noch in relativ kurzer Zeit eine zweite Sprache so perfekt beherrscht, dass eine eindeutige Kommunikation möglich ist.

Und eine der wichtigsten Fragen ist die Frage, welche Währung das Gebiet erhält. Vermutlich wird es der Euro sein, wenn das Gebiet durch Deutschland, Polen, Litauen übernommen wird oder als europäische Verwaltungszone klassifiziert wird. Aber wenn das Gebiet ein selbständiger Staat wird? Auf welcher Grundlage wird die neue Währung geschaffen. Welche „Sicherheiten“ stehen hinter dieser Währung? Sollte sich das selbständige Gebiet für den Euro entscheiden, so gibt es seine Finanzhoheit auf und somit auch die finanzielle Unabhängigkeit, denn man bewegt sich in den Abhängigkeiten der Europäischen Union.

3.5. Kommentar zum internationalen Status des Gebietes

Unter Beachtung der Erfahrungen im Rahmen der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 und den diskutierten Versprechungen seitens der westlichen Teilnehmer an den Vertragsverhandlungen, die jetzt angezweifelt werden, spielt der schriftliche fixierte und vertraglich garantierte internationale Status des Gebietes eine wesentliche Rolle. Russland wird sich zu keiner Übergabe des Gebietes entschließen können, wenn nicht zugesichert wird, dass das Gebiet, egal wie die Zugehörigkeitsfrage geklärt wird, frei von Militär, frei von Bündnisverpflichtungen bleibt. Sicher ist ein neutraler, entmilitarisierter Status eine optimale Lösung.

Für die Bevölkerung ist das wichtigste Problem, wie man sich ihr gegenüber zu Fragen der Reisefreiheit verhält, insbesondere, wenn das Gebiet einen selbständigen Status erhält. Es steht sofort die Frage, wie die ehemals russische Bevölkerung des Gebietes nach Russland zu ihren Verwandten kommt. Russland wäre sicher bereit, für die Bevölkerung Visafreiheit einzuräumen. Im umgekehrten Fall müsste aber auch Visafreiheit gewährt werden, d.h. russische Verwandte müssten visafrei in das Gebiet reisen können. Dies würde aber auch bedeuten, dass diese Verwandten auch weiterreisen könnten in andere Länder der Europäischen Union – denn eine Einschränkung der Visafreiheit nur auf das Gebiet, unter der Bedingung des Fehlens von Grenzen und Grenzkontrollen innerhalb der EU ist praktisch nicht möglich. Die Einführung der generellen Visafreiheit mit Russland würde dieses Problem aber lösen.

3.6. Kommentar zur Eigentumsfrage

Eines der größten und schwierigsten Aufgaben ist die Lösung der Eigentumsfrage. Eigentum, welches zum gegenwärtigen Zeitpunkt den Status

  • Föderales Eigentum,
  • Gebietseigentum,
  • Kommunaleigentum,

hat, könnte auch zukünftig den Status „Staatseigentum“ erhalten und somit durch die zuständigen staatlichen Stellen verwaltet werden. Unklar ist, ob „Alteigentümer“ aus Deutschland Ansprüche stellen und welche rechtlichen Auseinandersetzungen hier zu erwarten sind. Erfahrungen aus der jüngsten Vergangenheit im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands liegen vor.

Schwieriger wird die Frage mit dem Kircheneigentum, denn das Kircheneigentum fällt nicht unter die o.g. drei Eigentumskategorien, und der russische Staat kann hierüber nicht entscheiden. Eine Enteignung der russischen Kirche ist überhaupt nicht vorstellbar. Eine Enteignung unter Zahlung einer Abfindung wird sich in finanziellen Größenordnungen bewegen, die einfach nicht realisierbar sind. Also könnte als Ausweg nur der Verbleib der russisch-orthodoxen Kirche mit all ihren Eigentumsrechten im Gebiet möglich sein. Dies macht aber nur Sinn, wenn auch die jetzige russische Bevölkerung im Gebiet verbleibt, denn ohne diese Bevölkerung macht auch ein Verbleib der Kirche keinen Sinn.

Noch komplizierter wird die Frage des Privateigentums – sowohl an Grund und Boden wie auch an anderen Immobilien in Form von Gebäuden. Auch hier gibt es Immobilien aus altdeutschem Bestand und es gibt Gebäude die nach 1945 errichtet wurden. Bei einer Aussiedlung der Bevölkerung müsste diese zu marktüblichen Preisen entschädigt werden, denn eine einfache Enteignung ist unvorstellbar und mit internationalen Gesetzen nicht vereinbar. Der Aufkauf von Privateigentum dürfte sich ebenfalls in Größenordnungen bewegen, die durch die, an der Änderung des geopolitischen Status interessierten Seiten, nicht möglich ist zu finanzieren.

Werden hier nicht Lösungen gefunden, die durch alle Betroffenen im vollen Umfang getragen werden, d.h. die die Bevölkerung/Eigentümer vollständig zufrieden stellt, wird sich im Kaliningrader Gebiet eine soziale Spannung aufbauen, die in erster Linie nicht Russland belastet, sondern die Europäische Union.

3.7. Kommentar zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Gebietes

Unabhängig davon, wie der Status des Gebietes festgelegt wird (siehe Punkt 2.1.) muss festgelegt werden, aus welchen Quellen und auf welcher ökonomischen Grundlage das Gebiet seine Existenz gewährleistet.

Ein Großteil der Produktion bzw. Wertschöpfung, welche jetzt in Kaliningrad stattfindet, wird nach Veränderung des geopolitischen Status nicht mehr benötigt, d.h.

  • Fahrzeugbau
  • Schiffbau
  • Lebensmittelproduktion
  • Landwirtschaft
  • Hafenwirtschaft

Fahrzeugbau erfolgt zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Rahmen von „Avtotor“ um Fahrzeuge innerhalb Russlands für Russland zu produzieren und sie ist nur rentabel, weil der Staat Subventionierungen im Rahmen der Sonderwirtschaftszone vornimmt. Gehört das Gebiet nicht mehr zu Russland, macht sich auch die Fahrzeugproduktion überflüssig. Die Firma „Avtotor“ stellt aber im Gesamtwertschöpfungsprozess des Gebietes einen Anteil von rund 50 Prozent.

Der Schiffbau macht sich überflüssig, da die vorhandenen Werften nur eine unrentable Konkurrenz zu den Werften darstellen, die in der Europäischen Union existieren. Mögliche russische Aufträge werden die Werften nicht auslasten.

Die Lebensmittelproduktion ist in vielen Fragen auf den Kaliningrader Eigenbedarf und die Lieferungen nach Russland ausgerichtet. Nach Änderung des Gebietsstatus wird das Gebiet mit Billigwaren aus der Europäischen Union überschwemmt und die Lebensmittelproduktion wird unrentabel.

Die Landwirtschaft, als eine der jetzigen Perspektiven des Kaliningrader Gebietes macht sich sofort überflüssig, da bereits jetzt Überproduktionen in der Europäischen Union vorhanden sind und die Landwirtschaft des Gebietes die Landwirtschaft in der Europäischen Union nur weiterhin belasten wird. Um die Landwirtschaft jedoch konkurrenzfähig zu machen, sind Investitionen notwendig, auf die sich ein europäischer Bauer kaum einlassen wird, selbst unter dem Aspekt, dass ihm Grund und Boden geschenkt wird.

Die Hafenwirtschaft ist zum jetzigen Zeitpunkt schon umstritten und wenig rentabel. Große Konkurrenz existiert in den anliegenden Häfen in Polen und Litauen. Auch hier sind Investitionen nötig, die niemand vornehmen wird, wenn es preiswerte Alternativen in Polen und Litauen gibt.

Somit steht die Frage, mit welcher ökonomischen Tätigkeit die Bewohner des Gebietes ihren Lebensunterhalt verdienen könnten. Der Tourismus und die Bernsteinindustrie würden einem kleinen Teil der Bevölkerung Möglichkeiten bieten.

Eine weitere Möglichkeit wäre der Ausbau des Gebietes zu einem europäischen Kongress- und Ausstellungszentrum. Dies insbesondere im Hinblick auf eine enge Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Union. Ob jedoch dies ausreicht, um das Gebiet zu einem vollwertigen und sozial gut abgesicherten Teil der Europäischen Union zu machen ist zu bezweifeln.

Die Frage der ökonomischen Zukunft des Gebietes ist ungelöst. Es ist zu befürchten, dass es sich, ähnlich wie Gebiete in der ehemaligen DDR (z.B. Mecklenburg-Vorpommern) zu einem Armenhaus entwickelt und soziale Spannungen vorprogrammiert sind.

Uwe Niemeier

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