Dem toten Lenin ins Gesicht geschaut

Dem toten Lenin ins Gesicht geschaut
 
Waren Sie schonmal in Moskau, auf dem Roten Platz, im Mausoleum und haben dem toten Lenin ins Gesicht geschaut? In die Augen kann man ihm nicht schauen, denn die sind geschlossen. Was hat man für Gefühle, wenn man an einer Mumie, dem Führer des Weltproletariats, vorbei defiliert?
 
 
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Besonderheiten der nationalen Jagd“
 
Genau kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich glaube es war irgendwann in den Wintermonaten des Jahres 1982 als ich in Moskau war und das Mausoleum besuchte. Ich war nicht alleine, sondern unsere Studiengruppe war nach Moskau gereist. Mir fiel keine Ausrede ein, um mich vor diesem Besuch zu drücken und so stand ich, gemeinsam mit meinen anderen Genossen, in der Schlange, die in Tippelschritten voranschritt.
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Priwalowskije Millionen“
 
Es ging mir nicht darum, dass ich eigentlich ein verkappter Antikommunist war und deshalb den Führer des Weltproletariats nicht sehen wollte. Nein, das war es nicht. Ich habe aber nur ein beklemmendes Gefühl, einen Toten anzuschauen. Auch heute geht es mir noch so. Vier Beerdigungen habe ich in den letzten 20 Jahren erlebt und vor dem offenen Sarg gestanden, krampfhaft bemüht, den Blick nicht auf den oder die Verstorbene zu richten.
 
Und am Glassarg von Lenin bin ich auch vorbeigegangen und habe den Bruchteil einer Sekunde ihm ins Gesicht geschaut – Wachs, gläsern und viel kleiner, als ich dachte … das ist das, was mir in Erinnerung geblieben ist.
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Unsichtbarer Reisender“
 
Immer noch befindet sich Genosse Lenin im Mausoleum an der Kreml-Mauer, immer noch erhält er Besucher, die ihn anschauen, so wie man in der Kunstkamera die in „Essig“ eingelegten Anomalitäten anschaut, oder die ausgestopften anderen Lebewesen mit zwei Köpfen, fünf Füßen oder einem Auge auf der Stirn.
 
Mein Geschmack ist es nach wie vor nicht.
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Der Idiot“
 
In den letzten Jahren gab es häufig Versuche, Lenin endlich zur letzten Ruhe zu betten. Dies scheiterte prinzipiell an zwei Dingen: Zum einen einer nicht ausreichenden Argumentation für eine Beerdigung und zum zweiten, natürlich eng verbunden mit dem ersten Argument, dem Widerstand der noch zahlreich vorhandenen Anhänger des Kommunismus in Russland.
 
Nun hat sich der Verband der Architekten Russlands zu Wort gemeldet und einen Wettbewerb ausgerufen. Der Gedanke und die Vorgehensweise der Architekten haben mich beeindruckt.
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Besonderheiten der nationalen Jagd“
 
Sie haben nicht dazu aufgefordert, Lenin aus dem Mausoleum zu entfernen und das Gebäude abzureißen. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass es eine permanente Diskussion um Lenin und seine letzte Ruhestätte gäbe und sie sich in diese Diskussion nicht einmischen wollen. Ihnen geht es um das Gebäude an sich. Wenn sich irgendwann einmal die russische Gesellschaft entschließt, Lenin zu beerdigen, braucht das Mausoleum eine neue Zweckbestimmung. Und die Architekten wollten die Meinung der Bevölkerung wissen: Was soll mit dem Gebäude geschehen.
 
Eine Variante, die sicherlich viele Kommunistenhasser sofort vorschlagen werden, nämlich abreißen, geht nicht, da das Mausoleum zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Der Revisor“
 
Somit wartet man auf andere verwertbare und sachliche Vorschläge.
 
Allerdings kommentierten die Architekten doch noch ein wenig. Sie meinten, dass der Aufbewahrungsort des Körpers von Wladimir Lenin, mitten im Herzen des Landes, eigentlich eine Darstellung der historischen Fehler der Vergangenheit bedeutet und dem widerspricht, wie sich die heutige moderne Gesellschaft die ewige Ruhe eines Toten vorstellt. Weiterhin widerspricht die Aufbahrung Lenins den Regeln der russisch-orthodoxen Kirche und es widerspricht auch den Festlegungen, die Lenin für den Fall seines Ablebens selber getroffen hatte. Er wollte keine Aufbahrung, sondern er wollte neben seiner Mutter auf einem Moskauer Friedhof beigesetzt werden.
 
Die Autoren des Vorschlages für den Wettbewerb haben gleich selber einen Vorschlag eingebracht. Sie möchten in diesem Gebäude eine Ausstellung der Entwicklung und des Baus des Mausoleums unterbringen, denn viele wissen nicht, dass es insgesamt drei Varianten des Mausoleums gab.
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Schule des Lebens“
 
Bis 19. Oktober können Vorschläge eingereicht werden und am 13. November werden diese dann veröffentlicht. Zur Jury, die die Vorschläge bewerten sollen, sollen sowohl Vertreter des Kulturministeriums, sowie Vertreter der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation und der Partei „Gerechtes Russland“ gehören. Einladungen zur Mitarbeit wurden versandt.
 
Wenig später, nach Veröffentlichung der ersten Information, meldete sich ein Vertreter des Architektenverbandes zu Wort und bat, dass man diesen Wettbewerb richtig verstehen möge. Es ist nicht das Ziel, Lenin aus dem Mausoleum zu entfernen, weder heute, noch morgen. Aber wenn dies irgendwann einmal passieren sollte, sollten schon Gedanken für das Gebäude in der Schublade liegen. Der Architektenverband möchte keinerlei Zwietracht in der Gesellschaft hervorrufen. Die zusätzliche Erklärung machte sich nötig, weil der Chefkommunist Russlands Gennadi Sjuganow diesen Wettbewerb als „Provokative Initiative“ bezeichnet hatte.
 
Videoeinspielung: Kinoklassiker „Oktober“

 

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