Kamingespräch: Teilmobilmachung oder Systemrevision?

Kamingespräch: Teilmobilmachung oder Systemrevision?
 
Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu treffen und Gespräche zu führen. In Russland ist es üblich, dass man sich in der Küche trifft. Auch ich sitze mit meinen Gästen in der Küche. Aber es gibt Ausnahmen und wir sitzen neben einem Kamin – auch zu hitzigen Zeiten, und versuchen mit kühlem Kopf Gedanken auszutauschen.
 
 
Mal wieder meldete sich ein Bekannter bei mir. Er habe meinen Beitrag „Reichen 1,5 Mio.?“ angeschaut und wollte gerne mit mir darüber sprechen. Auch er habe so seine ganz eigenen Überlegungen zum Thema der Mobilmachung in Russland.
 
Schon lange mache ich mir Gedanken über die in Russland durchgeführte Teilmobilmachung und bin in der Zwischenzeit zu ganz merkwürdigen Erkenntnissen gekommen. Ob diese richtig sind oder nicht – keine Ahnung, denn ich habe niemanden, mit dem ich wirklich darüber sprechen kann, der kompetenter Fachmann ist. Zudem sollte man gegenwärtig nicht zu viel Neugier bei militärischen Themen entwickeln – jeder sollte wirklich nur das wissen, was er zur Erfüllung seiner Pflichten wissen muss. Aber niemand verbietet, Gedanken und Meinungen auszutauschen und so vereinbarten wir einen Termin.
 
Zum Treffen brachte er eine kleine Flasche russischen Konjak und frische Trubotschkis mit. Mit einem Augenzwinkern meinte er: Das mögen Sie doch, oder? Keine Ahnung, woher er wusste, dass dies meine Standardbestellung während meiner Leningrader Studienzeit war, als ich ziemlich regelmäßig in der kleinen Hotelbar in der dritten Etage des Hotels Sputnik saß und mich auch damals schon mit anderen gerne unterhielt.
 
Schon nach seinen ersten Worten habe ich verstanden, dass wir beide anscheinend die völlig gleichen Gedanken haben, nämlich: Es hat gar keine Teilmobilmachung stattgefunden. Das, was offiziell als Teilmobilmachung bezeichnet wurde, war eine Generalrevision des Systems, mit dem Ziel, die Funktionsfähigkeit zu Kriegszeiten zu testen.
 
Seit dem Großen Vaterländischen Krieg, der bekanntlich am 9. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation des Landes endete, welches heute für diese Schmach wieder Revanche nehmen möchte, hat es keine Mobilmachung mehr in der Sowjetunion oder Russland gegeben. Es gab Übungen und die zeigten immer die hohe Einsatzbereitschaft und volle Funktionsfähigkeit des Systems.
 
Anscheinend, so erklärte mir mein Gast, gab es doch irgendwann, irgendwo, bei irgendjemandem Zweifel, ob das System wirklich funktioniert. Und da sich die Meinungen verdichten, dass wir uns einem großen Krieg nähern, war es nur logisch, dass dringender Bedarf bestand zu testen, ob eine Mobilmachung der Armee auch wirklich funktioniert. Und so wurden 300.000 Personen einberufen, um das System zu testen. Und das System, so meinte mein Gast, hat den Test nicht bestanden.
 
Meinen Sie nicht, dass, wenn es nur ein Test war, eine Generalrevision des Systems, dass es ausgereicht hätte 100.000 Mann zu mobilisieren – fragte ich?
 
Nein, das hätte nicht ausgereicht. In die Teilmobilmachung war das ganze Land einbezogen und somit war die Anzahl von 300.000 wohl die optimale Zahl, um alle Wehrkommandos im ganzen Land in die Arbeit einzubeziehen. Jetzt ist man im Verteidigungsministerium bis zum letzten Wehrkommando und dessen qualifizierter Arbeit informiert – meinte mein Bekannter.
 
Ich ergänzte, dass ich viel über die Teilmobilmachung in den Medien gelesen habe und letztendlich der Eindruck entstanden ist, dass alles ein einziges Chaos war und ich erstaunt war, wie man trotz dieses Chaos die Aufgabe des russischen Präsidenten in relativ kurzer Zeit erfüllt hat.
 
Naja, meinte mein Bekannter, relativ kurze Zeit ist geschmeichelt. Wenn wir uns wirklich im Krieg befinden, haben wir keine sechs Wochen Zeit, um eine Mobilmachung durchzuführen. Da muss es wesentlich schneller gehen.
 
Ich habe den Eindruck, brachte ich mich wieder in das Gespräch ein, als ob Russland eigentlich nicht wirklich ein Mobilmachungssystem im althergebrachten klassischen Muster braucht. Die Gesellschaft hat sich verändert, die Bereitschaft, dem Land zu dienen auch und vor allem sind die Grenzen offen, so dass diejenigen, die eigentlich im Mobilmachungssystem erfasst sind, sich sehr schnell ihrer vaterländischen Pflichten entziehen können – was ja auch viele jetzt gemacht haben.
 
Ihr Eindruck ist völlig richtig, meinte mein Gast. Er habe auch den Eindruck, als ob mit dieser Generalrevision eigentlich nur überprüft werden sollte, ob das Mobilmachungssystem noch den aktuellen Anforderungen entspricht. Anscheinend ist man in der Führung der Armee zu dem Schluss gekommen, dass dem nicht so ist, denn die jetzt angekündigte umfangreiche Reform der Armee zeigt, dass man wohl eine ausreichend große Armee, hauptsächlich bestehend aus Vertragssoldaten, schaffen will, um die zukünftigen Sicherheitsaufgaben des Landes erfüllen zu können – egal ob an den Grenzen Russlands oder außerhalb der Grenzen des Landes. Die Aufstockung auf 1,5 Mio. Soldaten ist nur der erste Schritt. Deshalb gebe ich Ihnen recht, dass wir wohl bald über eine Armee von zwei Millionen Soldaten verfügen werden – so mein Gast – und eine Mobilmachung dann nur noch nötig ist, wenn das Land Partisanen braucht, um die Besatzer zu tyrannisieren.
 
Der Vorteil ist auch der, dass das Land die materiellen Mobilmachungsreserven, in bestimmten Materialbelangen, erheblich einschränken kann. Das spart wiederum Geld und Personal für die Wartung und Pflege, ergänzte ich die Überlegungen meines Gesprächspartners.
 
Völlig richtig, meinte dieser. Sie waren ja in Ihrem früheren Leben in diesem Bereich beruflich engagiert – richtig, stellte er zu meinem Erstaunen fest.
 
Aber kommen wir nochmal auf diejenigen zurück, die völlig ungehindert das Land während der Teilmobilmachung verlassen haben – sagte mein Gast. Sie glauben, dass dies eines der Elemente des Versagens des Mobilmachungssystems war, dass man nicht die Grenzen geschlossen hat?
 
Ja, den Eindruck hatte ich – erwiderte ich.
 
Ich habe eine andere Meinung. Ich glaube, dass all das, was während der Teilmobilmachung geschehen ist, auch mehr oder weniger gewollt war. Man wollte alle Unzulänglichkeiten aufdecken und man wollte auch die Flucht von Mobilmachungspflichtigen – kommentierte mein Gegenüber zu meinem Erstaunen.
 
Es ging darum festzustellen, ob man dieses Mobilmachungssystem braucht – wir hatten darüber schon gesprochen. Und man hat festgestellt, dass man dieses historische, antiquierte System nicht braucht. Und man hat sich im Rahmen der Teilmobilmachung von den Menschen befreit, die unzuverlässig sind, die nicht bereit waren, für ihr Land die Waffe in die Hand zu nehmen und im schlimmsten Fall, für dieses Land auch zu sterben.
 
Stellen Sie sich vor, so mein Gast, es kommt zu einem großen Krieg und Russland muss seine ganzen personellen Reserven mobilisieren. Hierzu gehören auch diejenigen, die jetzt geflüchtet sind, dann aber nicht mehr flüchten können, weil die Grenzen zu sind. Diese erhalten Ausrüstung und Waffen und müssen gegen ihren Willen an die Front. Diese Leute werden die ersten sein, die zum Feind überlaufen und dabei, wenn nötig, ihre Kameraden in den Rücken schießen. Diese Gefahr besteht nun nicht mehr. Das Land hat sich elegant von Unzuverlässigen befreit – so mein Gast.
 
Ich nutzte den Moment meiner Sprachlosigkeit, um schnell in die cremige Trubotschka zu beißen und das Gläschen Konjak zu trinken.
 
Es wird also keine Mobilmachung mehr geben – fragte ich danach.
 
Nein, wohl nicht, wenn wir unsere Erkenntnisse aus dem Gespräch ernst nehmen – meinte mein Bekannter.
 
 
Einige Tage später las ich ein großes Interview des Chefs des russischen Generalstabes und jetzigen Kommandierenden der Einsatzkräfte in der Ukraine Armeegeneral Gerassimow. Dieser meinte im Interview, dass das System der Mobilmachung in Russland nicht an die modernen Anforderungen angepasst war. Er sprach sogar davon, dass es nicht den Anforderungen an die neuen modernen ökonomischen Verhältnisse entsprach. Deshalb musste alles im Verlaufe der Teilmobilmachung korrigiert werden. Das sei den Angehörigen des Generalstabes gelungen.
 
Wir nehmen also die offizielle Information zur Kenntnis, dass das Mobilmachungssystem wie es war, den Test nicht bestanden hat. Es war, so wie von mir und meinem Gast vermutet, eine Systemrevision. Es wurde „repariert“. Und danach wurden Beschlüsse gefasst, wesentliche Elemente der „Maschine Armee“ zu erneuern. Damit wird sich Russland 2023 beschäftigen.
 
Sie sahen einen Beitrag von „Baltische Welle“. Vielen Dank für Ihr Interesse. Tschüss und Poka aus Kaliningrad.
 
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