Kurgan – die „Königsberger“ Alternative

Kurgan – die „Königsberger“ Alternative
 
Von einem Massenphänomen kann man nicht sprechen, aber es gibt Deutsche, die für sich eine neue Zukunft in Russland suchen. Immer wieder erhalte ich in meiner Eigenschaft als Kaliningrader Anfragen mit Bitten um Tipps und Hinweise. Nicht selten habe ich den Eindruck, dass Deutsche nicht nach Kaliningrad, sondern nach Königsberg umziehen wollen.
 
 
 
Beeindrucken tun mich schon die Deutschen, die in der heutigen angespannten internationalen Situation, im Zusammenhang mit Russland und der Ukraine, im Zusammenhang mit großen geopolitischen Veränderungen, die uns noch bevorstehen, sich entschließen, nach Russland auszuwandern. Häufig verstehen diese Deutschen kein Wort Russisch und ich frage mich schon, wie wollen diese Deutschen hier bei uns klarkommen?
 
Und die Motivation ist natürlich interessant. Nur alleine, dass es in Deutschland nicht mehr auszuhalten ist, ist für mich keine Motivation. Auch viele andere Argumente, also z.B. die vielen Flüchtlinge, die Politik der deutschen Regierung … auch das ist für mich keine überzeugende Motivation.
 
Spricht man dann mit solchen Deutschen, stellt sich häufig heraus, dass diese überhaupt keine Vorstellungen haben, wie sie denn ihr neues Leben in Russland organisieren wollen – keine Vorstellungen, kein Geld, keine Sprachkenntnisse …
 
Dann brauche ich noch zusätzliche Motivationen, warum denn der Deutsche unbedingt nach Kaliningrad umsiedeln will – in eine Region, die heute kreuzgefährlich ist. Wir sind die ersten die sterben werden, wenn es zu einem Krieg kommt. Geschäfte zu machen, Handel zu organisieren, eine Produktion auf die Beine zu stellen ist, bedingt durch die isolierte Lage, so gut wie sinnlos, es sei denn, man orientiert sich nur regional, will nichts nach Ost oder West exportieren oder liefern und man braucht auch nichts aus Ost oder West, um sein Business zu organisieren. Die Logistik ist einfach schwierig und teuer und belastet die Wettbewerbsfähigkeit erheblich.
 
Warum also wollen sich Deutsche im Kaliningrader Gebiet ansiedeln? Außer ein paar historischen Gebäuden, erinnert nichts mehr an „alte Zeiten“. Und es gibt auch keine erwähnenswerte Anzahl von anderen Deutschen hier, die sich wohlfühlen oder gar eine Diaspora bilden könnten.
 
Häufig höre ich das Argument der Nähe zu Deutschland. Das weckt bei mir nicht das erwartete Verständnis, sondern ruft neue Fragen hervor, weckt sogar ein wenig Misstrauen in mir. Diejenigen, die nach Kaliningrad übersiedeln wollen, wollen doch weg von Deutschland, einem Land, mit dem sie nicht zufrieden sind. Wieso sucht man dann noch die Nähe zu etwas, mit dem man nicht zufrieden ist?
 
Man kann auch mal schnell über die Grenze, Polen, Litauen sind Nachbarn. Auch kein überzeugendes Moment für mich – ich bin reiseunlustig und habe vermutlich nicht die richtige Einstellung, um die Reiselaunen der Deutschen zu verstehen. Aber ich will in kein Land, wo man mir feindlich gegenübersteht. Ich bin da mehr für die schwarz-weiß Lösung.
 
Wer aber die Nähe zu etwas Ungeliebtem, in diesem Fall seinem ehemaligen Vaterland sucht, ist mit einem Bein immer auf dem Sprung wieder zurückzugehen. Das versteht man auch in Russland und ist wohl nicht bereit – so zumindest mein subjektives Empfinden, in diese Ausländer mit „Ständigem, zeitweiligem Wohnsitz“ in Russland viel Zeit, Mühe und Aufmerksamkeit zu investieren. Zu viele Ausländer hat man schon kommen und gehen sehen. Nicht alle haben positive Erinnerungen in Russland hinterlassen.
 
Russland ist an Übersiedler interessiert, die langfristig ihr Leben in Russland organisieren, die sich in die russische Gesellschaft einbringen, die Russisch sprechen und die sich bemühen, in die russische Kultur einzudringen – übrigens, russische Kultur ist ein schwieriges Thema für Ausländer, für nicht in Russland Gebürtige … genauso, wie deutsche Kultur für Nichtdeutsche schwer ist … Ich bedaure täglich, dass ich mein Studium, damals in Leningrad, nicht zukunftsorientiert genutzt habe, um mich mit der sowjetischen Kultur vertraut zu machen. Damals wusste ich allerdings nicht, dass Russland meine neue Zukunft wird. Heute versuche ich – sehr mühsam – das Versäumte nachzuholen. Mein russischer Bekanntenkreis hilft mir dabei. Der russische Staat fordert dies nicht, aber er erwartet es von denen, die in Russland leben wollen.
 
Dazu kommt, ich erwähnte es schon, die schwierige geopolitische Lage Kaliningrads. Das hat natürlich Folgen.
 
Überlegen Sie einmal … Sie wohnen in einem kleinen Dorf, in einer kleinen Straße. Sie kennen dort jeden. Und plötzlich taucht ein neues Gesicht auf. Logisch, dass Sie sofort beginnen zu überlegen, wer das ist, was der will, warum er jeden Tag hier und da spazieren geht, … Sie sind einfach misstrauisch und das ist auch verständlich. Würden Sie in einer großen Wohnanlage in einer großen Stadt wohnen, wo kein Nachbar den anderen kennt, so wäre dies etwas anderes. Man fühlt sich auch in der großen Gemeinschaft etwas sicherer, wenn auch anonymer. Ein oder zwei neue, unbekannte Gesichter, sind da weniger gefährlich, rufen weniger oder auch gar kein neugieriges Interesse hervor. Kaliningrad ist eben in dieser Beziehung ein Dorf.
 
Ähnlich geht es wohl auch jedem anderen Staat, auch dem russischen Staat. Alle, die sich für Russland interessieren, wissen, dass es russische Gebiete gibt, auf die andere Ansprüche erheben – offiziell oder weniger offiziell. Kaliningrad ist eines dieser Gebiete. Und Russland, dessen Existenz und staatliche Einheit gegenwärtig durch viele europäische Staaten, die Europäische Union, die NATO, in Frage gestellt wird, muss auf diese Fakten reagieren.
 
 
Aber, wie kann man den Deutschen helfen, die für sich in Deutschland – aus welchen Gründen auch immer – keine Zukunft mehr sehen und glauben, man kann in Russland einen neuen Start wagen?
 
Viele meiner Leser und Zuschauer wissen, dass ich in den letzten Jahren eine Zweitliebe für das Gebiet Kurgan entwickelt habe. Nein, diese Liebe ist nicht entstanden, weil ich befürchte, dass es der Fünften Kolonne in Kaliningrad gelingt, das Gebiet in Königsberg umzubenennen und an Deutschland zu übergeben und ich in die Tiefe des russischen Landes flüchten muss. Ich lebe in Kaliningrad und werde hier auch sterben.
 
Ein Bekannter, dessen Eltern in einem kleinen Dorf im Kurganer Gebiet leben, hat mich dorthin mehrmals eingeladen und ich habe während meiner Aufenthalte erkannt, dass dieses Gebiet, welches gegenwärtig zu den depressivsten Gebieten Russlands gehört, ein gewaltiges Entwicklungspotential hat. Dort ist nichts perfekt und jeder der dorthin geht, leistet Pionierarbeit – ein Umstand, der mich schon immer gereizt hat. Ich hatte in meinem Leben sehr häufig das Glück, etwas völlig neues aufbauen oder etwas bestehendes umbauen zu dürfen. Kaliningrad ist einer dieser Glücksfälle und das Kurganer Gebiet könnte noch ein weiterer Glücksfall werden – wenn auch mehr per „Fernbedienung“.
 
 
Vor 200, 300 Jahren haben Deutsche bereits diesen Schritt gewagt – und ob Sie es glauben oder nicht, auch im Kurganer Gebiet gibt es noch Siedlungen, wo nur RusslandDeutsche wohnen. Eine Siedlung konnte ich im Jahre 2021 besuchen, aber auch in meinem Lieblingsdorf „Polowinka“ leben RusslandDeutsche.
 
Derjenige, der in das Kurganer Gebiet siedelt, vielleicht sogar in eines der vielen kleinen malerischen, romantischen Dörfer, hat weniger das Problem, seine Motivation zu erklären. Dort, in dieser Gegend, mit dem Nachbarn Kasachstan, gibt es nichts, was sicherheitsrelevant ist. Derjenige, der dorthin geht, sucht auch keine westliche Zivilisation. Derjenige, da bin ich mir sehr sicher, der dorthin geht, will wirklich einen völligen Neuanfang und ist bereit, auf viele Bequemlichkeiten zu verzichten. Allerdings, ein wenig Geld sollte man schon mitbringen, denn jede Geschäftsidee erfordert eine Mindestsumme an Kapital.
 
…zigmal habe ich in meinem Bekanntenkreis erzählt, dass, wäre ich 20 Jahre, 30 Jahre jünger, das Kurganer Gebiet und das Dorf Polowinka für mich ideal für die Umsetzung meiner Träume wäre. Egal was man dort macht, man hat eigentlich keine Konkurrenz und man kann seinen Wünschen und Träumen freien Lauf lassen.
 
Allerdings, dass will ich nicht verschweigen, gibt es weder im Kurganer Gebiet, noch im Dorf Polowinka ein deutsches Generalkonsulat. Das unterscheidet das Kurganer vom Kaliningrader Gebiet. Aber, glauben Sie mir, Sie werden es auch nicht vermissen. Sie wollten ja weg aus Deutschland, mit dem Sie unzufrieden sind. Und ein Generalkonsulat ist ein Strukturelement des Landes, von dem Sie sich trennen wollen. Ich habe das deutsche Generalkonsulat in Kaliningrad in den letzten 30 Jahren nicht benötigt. Im Gegenteil, es hat mir nur Schwierigkeiten bereitet.
 
 
Lassen wir uns von Kurganern noch kurz erzählen, welche Deutschen im Kurganer Gebiet lebten und was sie getan haben.  Die heutige Zeit gibt Deutschen die Chance, die Erfolgsgeschichte ihrer Vorfahren zu wiederholen.
 
Videoeinspielung zur deutschen Geschichte im Kaliningrader Gebiet
 
Deutsche gehören zu den Ureinwohnern unserer Region. Seit dem achtzehnten Jahrhundert wurde der Transural von der zaristischen Regierung als Verbannungsort genutzt. 1800 wurde der deutsche Schriftsteller August von Kotzebue nach Kurgan verbannt. Später wurde Kurgan zum Aufenthaltsort vieler Dekabristen, unter denen sich auch Deutsche befanden. Der erste, der sich in Kurgan niederließ, war der Dekabrist Ivan Fokht, der hier zwölf Jahre lang lebte und sein Medizinstudium fortsetzte. Dann kamen die Dekabristen Baron Andreas von Rosen, der in der Landwirtschaft tätig war, und Alexander von der Briggen, der viel Energie der literarischen Arbeit über das Leben der Exilanten widmete, nach Kurgan. Nach dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn begannen Deutsche aus dem europäischen Teil des Landes hierher zu ziehen.
 
1907 wandten sich deutsche Lutheraner an die Kurganer Gebietsduma mit der Bitte, ein Grundstück für den Bau einer Kirche zu bekommen. Ihnen wurde ein Grundstück an der Ecke Kompaneysky Gasse, der heutigen Ersten Fabrikstraße und der Gogol-Straße zugewiesen. Nur eine Zeichnung der Kirche ist erhalten geblieben, aber es sah ungefähr so aus.
 
Eine große Anzahl von Deutschen befand sich während des Ersten Weltkriegs als Kriegsgefangene auf dem Gebiet der modernen Region Kurgan.
 
Zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges wurden Hunderttausende Russlanddeutsche aus dem europäischen Teil der Sowjetunion nach Sibirien deportiert. Später wurden gefangene deutsche Bürger, die am Bau von Wohngebäuden und Industriebetrieben beteiligt waren, hierher deportiert.
 
Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hatte Kurgan ein Jugend- und Familienzentrum für deutsche Kultur, dass sich mit der Erhaltung von Traditionen, dem Studium und der Popularisierung der deutschen Sprache beschäftigte. Jetzt finden im Transural alle paar Jahre die Tage der deutschen Kultur statt.
 
In Kurgan ist das Haus des Dekabristen Rosen erhalten geblieben. Es beherbergt heute die Kinderkunstschule. Vor dem Haus befindet sich ein Garten, der von ihm und seiner Familie angelegt wurde und der heute als "Historischer Gartenplatz des Barons Rosen" bezeichnet wird.
 
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Sie sahen einen Beitrag von „Baltische Welle“. Vielen Dank für Ihr Interesse. Tschüss und Poka aus Kaliningrad.
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